- Rückblick: Meine alles verändernde Entscheidung - Teil 3
- [ Drahtseiltaenzerin ♥ ]
- 18. Mai 2018
- 6 Min. Lesezeit
Meine erste Sitzung
Das Sprechzimmer ist kaum größer als mein altes Kinderzimmer, das was jetzt meine Schwester bezogen hat. Also wirklich nicht groß.
Es ist etwas nüchtern eingerichtet, aber es macht keinen sterilen Eindruck, es ist, den Umständen entsprechend, schon behaglich. Links an der Wand steht ein Regal mit unzähliger Fachliteratur, es gibt ein kleines Fenster und in der Mitte stehen sich zwei kleine, schwarze, (sehr bequeme!) Sessel gegenüber. An der rechten Wand steht ein sehr kleiner Glastisch, der gerade ausreicht um ein paar Unterlagen abzulegen. Er erfüllt seinen Zweck und steht nicht unmittelbar zwischen den Sesseln, was ich sehr gut finde.
Man hat nicht den Eindruck als müsse eine Distanz bewahrt werden, man kann mit seinem Gegenüber freisprechen und muss sich nicht über eine Barriere hinweg unterhalten; meine inneren Mauern zu überwinden ist schon schwer genug.
Desweiteren kann mein Gegenüber so meine gesamte Mimik und Gestik registrieren, was vermutlich sehr hilfreich ist. Wie ein Röntgenblick der durch mich hindurch geht und meine Verfassung scannt, denn Herr Müller* scheint mich nur ansehen zu müssen um zu wissen wie ich mich wohl gerade fühle. Ich finde das sehr angenehm, denn es gibt mir das Gefühl ein Stück weit verstanden zu werden.
Die gesamte Zeit über war ich extrem angespannt. Es war keine übliche Sitzung wie ich sie kenne und ich bin froh dass es nicht anfing mit: "Erzählen sie mal etwas über sich".
Ich hasse das, denn dieser Satz bringt mich an meine Grenzen. Was bitte erzählt ein Mensch ohne Identitätsgefühl über sich? Was soll man über einen Menschen sagen den man nicht kennt? Genauso gut könnte man nicht bitten etwas über die Gefühle und die Lebensgeschichte vom 13. Präsidenten der Vereinigten Staaten zu erzählen. Mal davon abgesehen, dass ich in Geschichte sowieso eine totale Niete bin und keinen blassen Schimmer habe wer der 13. Präsident war, wäre alles was man erzählen könnte: wie er heißt, wann er geboren wurde und eben dass er Präsident war.
Und wenn ich so darüber nachdenke macht es mich traurig, dass ich schon 22 Jahre lebe und mich selbst nicht kenne.
Für gewöhnlich liefen meine Sitzungen bei anderen Therapeuten immer gleich ab: ich sollte erzählen wer ich bin und was meine Probleme sind, allerdings ging es immer nur um die aktuelle Problematik - diesmal konnte ich Themen aus dem gesamten Spektrum meines Lebens anschneiden. Wir redeten über fast alles, was dazu führte, dass ich einige Lasten die ich schon jahrelang auf meinen Schultern trug, für kurze Zeit einfach mal ablegen konnte. Jedes einzelne Thema jetzt aufzuzählen würde so viel unnötige Zeit und Platz beanspruchen, dass ich das einfach so auf sich beruhen lasse. Wir sprachen über die Verdachtsdiagnose, die mich schon seit einigen Jahren begleitete: das Borderline-Syndrom.
Für jene, welche nicht wissen, um was es sich dabei handelt mir sei verziehen, dass ich es nicht hier und jetzt beschreiben werde, da es einfach so unfassbar umfangreich ist, aber ein Verweis auf eine sehr informative Quelle werde ich euch nicht vorenthalten: www.borderline-borderliner.de
Dort ist dieses Krankheitsbild sehr ausführlich beschrieben und wenn ihr einmal reinschaut versteht ihr vielleicht, weshalb ich auf eine Ausführung verzichte.
In dieser Sitzung sah es schon sehr danach aus, als würde ich mit meiner (Selbst)Diagnose gar nicht mal so falsch liegen. Ich fragte inwiefern wir die Möglichkeit haben eine Diagnose zu stellen und Herr Müller sagte mir, dass er mir das nächste Mal schon sagen könne um was es sich sehr wahrscheinlich handeln wird. Das ist doch schon mal was. Bald würde ich Gewissheit haben. Sollte es wirklich Borderline sein, dann würde mir das vermutlich erst mal den Boden unter den Füßen wegziehen und das obwohl ich es all die Jahre schon geahnt habe. Er sagte mir, dass er meistens ein sehr gutes Bauchgefühl hat, was Diagnosen angeht und das die Anzeichen einer Borderline-Störung auf jeden Fall da wären. Da das die professionelle Diagnostik natürlich nicht ersetzte, bekam ich noch einen Fragebogen für zu Hause, da dieser in etwa zwei bis drei Stunden in Anspruch nehmen würde und einen Psychotherapie-Vertrag zum durchlesen und unterzeichnen.
Ehrlich gesagt, aufmerksam durchgelesen habe ich ihn nicht, aber das Wesentliche weiß ich. Mein Therapeut fragte mich zwischenzeitlich immer wieder wie ich mich fühle, was ich absolut nicht gewohnt war; mir aber sehr zusagte.
Ich bekam wirklich das Gefühl, dass er sich ernsthaft für mich interessierte. Das war neu für mich. Ich fühlte mich prinzipiell sehr wohl bei ihm. Nachdem wir unsere Stunde fast schon ein wenig überzogen hatten, klingelte es in der Praxis. Das wird wohl der Termin nach mir sein. Während Herr Müller draußen schnell die Tür öffnete wurde mir klar, dass es ein Klingelschild geben MUSS! Um noch mal auf das Thema von vorhin zu kommen.
Beim nächsten Mal werde ich mich mal genauer umsehen, anstatt blind in Aufregung zu verfallen, aber das bin eben typisch ich.
Er kam wieder ins Sprechzimmer, entschuldige sich kurz und wir fuhren fort. Wir machten einen neuen Termin aus und ich war überrascht, dass dieser gleich in der darauffolgenden Woche stattfinden sollte. Sonst bin ich alle vier Wochen mal zum Therapeuten gegangen, was auch dazu führte, dass ich über die Zeit so manchen Termin einfach vergessen habe. Herr Müller meinte, mir sei nicht damit geholfen, wenn ich einmal im Monat vorbeikomme. Ich bekam immer mehr den Eindruck, dass dieser Mann es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat Menschen wie mir zu helfen, nicht zuletzt weil er mir erzählt hatte auch schon abends halb neun noch Sitzungen abgehalten zu haben. Ich bekam also für Freitag eine Woche später meine nächsten Termin. Ich würde in der Woche Spätschicht haben, weshalb ich also unmittelbar vor der Arbeit hin müsste, aber ich schaffe das schon. Ich habe ja gar keine andere Wahl. Mit meinen Unterlagen in der Tasche und einem unbeholfenen "Dankeschön" verabschiedete ich mich für heute und wurde mit einem ehrlichen, liebevollen Lächeln entlassen. Als die Tür hinter mir ins Schloss viel atmet ich erst einmal tief durch - Geschafft!

Ich habe in der heutigen Sitzung viel geweint - ein Gefühlsspektrum von unzähligen Empfindungen innerhalb einer Stunde zu durchleben und dann noch so intensiv zu fühlen wie ich, kostet unglaublich viel Kraft und so war ich froh es erst einmal überstanden zu haben. Ich bin mir darüber im Klaren, dass das erst die Spitze des Eisberges war. Das hat Herr Müller auch gesagt. So eine Therapie wird nie leicht sein. Wie schwer es wirklich werden kann sollte ich wenig später schon herausfinden. Zum Glück musste ich den Weg nach Hause nicht laufen, mein Mann holte mich ab, da er beim Tätowierer schon fertig war. Auf der Heimfahrt erzählte ich ihm wie es war. Als ich dann wieder zu Hause war wollte ich mal in den Fragebogen schauen, naja ich wollte ihn überfliegen. Ich habe mir die ersten zwei Fragen durchgelesen und war schon wieder restlos bedient. Also blätterte ich noch fix durch und konnte nicht fassen, dass es ganze 11 Seiten waren, die ist so ehrlich wie möglich auszufüllen galt. 11 Seiten mit Fragen zu meiner Lebensgeschichte, aus der tiefsten Vergangenheit bis heute.
Ich kotz ab!
Meine zweite Sitzung & meine Diagnosen
In der darauffolgenden Sitzung verkündete Herr Müller, das noch ein weiterer Fragebogen auf mich wartete - toll. Immer her mit den zermürbenden Aufgaben. Ich bekam ein Klemmbrett mit einem ausgedruckten Standart-Diagnose-Test für Depressionen.
Den sogenannten "BDI" kannte ich schon von meinem Aufenthalt in der Klinik, da musste ich den auch schon ausfüllen. Wofür BDI steht weiß ich allerdings nicht, es ist mir aber ehrlich gesagt auch egal. Ich weiß worum es geht, das reicht vollkommen. Herr Müller fragte mich ob ich den anderen Fragebogen schon fertig hätte und ich drückte ihm diesen samt Therapievertrag in die Hand.
Ich dachte so bei mir: "Bitteschön, da haben Sie das Folterinstrument zurück."
Er verließ den Raum, damit ich meine Ruhe hatte. Ich bemerkte beim ankreuzen der Antwortmöglichkeiten zum einen, dass ich ein paar Fragen anders beantwortete als noch vor einem Jahr und zum anderen, dass mir Multiple-Choice-Tests viel lieber waren als jene bei denen ich gefühlt einen halben Aufsatz bei jeder Aufgabe schreiben muss. Ich war relativ schnell durch mit den Fragen und wartete, dass Herr Müller zurück kam.
Gemeinsam werteten wir die beiden Tests und obwohl ich es eigentlich schon länger wusste und mir eine der beiden Diagnosen schon vor über einem Jahr gestellt wurde war es abermals ein Schlag tief in die Magengrube:
Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Schwere Depressionen.
Ich wusste es, aber ich wollte es bis dahin irgendwie doch nicht so wirklich wahr haben.
Das klang für mich im ersten Moment einfach nur nach "schwer gestört".
Ich meine, heute bezeichne ich mich selbstironisch auch manchmal als"(schwer) gestört", aber damals war es einfach nur ernüchternd. Doch obwohl es mich innerlich zusammenzucken ließ, saß ich einfach nur ausdruckslos in meinem Sessel, schaute meinen Therapeuten an & meinte: "Hm, hab ich Ihnen ja gesagt."
Den Rest der Stunde unterhielten wir uns über die Diagnosen im Detail und erörterten verschiedene Therapieansätze. Schlussendlich haben wir uns für die Gesprächs- und Verhaltenstherapie entschieden und ich hatte Glück, dass dieses Therapiekonzept gut zu mir passte.
Wie in einem vorhergehenden Eintrag schon erwähnt, bin ich seit nunmehr zwei Jahren bei der Gesprächs- und Verhaltenstherapie und es tut mir immer noch gut. Ich lerne immer neues dazu und wenn das in einer Sitzung mal nicht der Fall ist, dann tut es mir wenigstens unheimlich gut mit Herrn Müller zu reden. Das ist mittlerweile wie eine Stunde Auszeit und ich genieße es, egal ob es eine entspannte Sitzung ist oder ob Tränen fließen.
Er tut mir einfach wahnsinnig gut.
Ich bereue es definitiv nicht, diesen Schritt gegangen zu sein - ganz im Gegenteil. Es war die beste Entscheidung meines Lebens und auch, wenn der Start anstrengend war, mir viel abverlangte und sehr viel Kraft gekostet hat, so war es doch jede Träne, jeden Schmerz und jede Minute wert!
Nicht das Beginnen wird belohnt, sondern einzig und allein das Durchhalten. (Katharina von Siena)
*Name geändert
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